Unsere Indienreise 2018

Wir sitzen in einem Café in der indischen Megametropole Bangalore. Nachdem wir seit 22 Stunden in Flugzeugen, an Flughäfen, in Bussen und zuletzt im Taxi mit Ohrenbetäubender Bollywood Musik unterwegs waren, wollen wir uns kurz ausruhen. Zum ersten Mal stellt Raphael die Frage: „Warum machen wir das eigentlich?“. Ich lache. „Das kannst Du doch nicht jetzt schon fragen!“.

Kurz darauf sitzen wir im Büro von Rang De und geben ein Interview über unsere Reisepläne. Wir sind uns beide unsicher, ob wir überhaupt kameratauglich sind, aber man versichert uns, dass wir frisch wie der Morgentau aussähen. Wir werden von Lakshmi, Chandni und Praveen interviewt, die uns später auf unserer Reise ins ländliche Indien begleiten werden. Lakshmi organisiert die Dokumentation, die auf unserer Reise entstehen soll. Chandni ist die Community Managerin von Rang De und Praveen unser Kameramann.

Als erstes stellen wir uns vor: Raphael, arbeitet in der Finanzbranche; Michael, arbeitet in der Computerbranche. Was uns an Rang De überzeuge? – Vor allem überzeuge uns das Konzept von Rang De: Man vergibt einen Kleinkredit, sieht, wie dieser abbezahlt wird, und dann kann man den Kreislauf von vorne starten. Außerdem haben Wohltätigkeitsorganisationen oft das Problem, dass sie nicht wirklich vermitteln können, wie die Spenden eingesetzt werden. Bei Rang De könne man explizit eine Person unterstützen. Ob die Erfahrung, Vater zu werden, Raphael besonders beeinflusst habe? – Nun, er habe sich schon öfter gefragt, welche Chancen seine Tochter hätte, wenn sie in Indien auf dem Land geboren wäre. 

Nach dem Interview treffen wir noch in Bangalore einen Kreditnehmer von Rang De. Mansoor hat einen kleinen Betrieb, der den Müll von Bangalores Straßen sammelt, in Handarbeit trennt und das verwertbare Material weiterverkauft. Mit seinem Kleinkredit deckt er die laufenden Kosten. Ohne den Kredit wäre es ihm nie möglich gewesen, ein Auto zum Müllsammeln zu kaufen oder eine Lagerhalle zu mieten. Er hat schon oft einen Kredit von Rang De bezogen, konnte ihn wegen der geringen Zinsen immer wieder abbezahlen und ist stolz auf sein kleines Unternehmen, das die Straßen Bangalores ein Stückchen sauberer macht. Allerdings sei er ungebildet, sagt er, und es gebe bestimmt Wege, seine Arbeit besser zu machen. Dafür müsse man aber erstmal die nötige Aufmerksamkeit generieren.

Abends sitzen wir abgekämpft am Bahnhof. Wir werden die Nacht im Zug Richtung Nordosten verbringen. Vor uns kämpfen drei Hunde auf dem Bahnsteig, gegenüber fährt jemand mit einem Motorrad hin und her. Mit einiger Verspätung trifft schließlich unser Zug ein. In unserem Abteil gibt es noch einige Konversation mit Mitreisenden und schließlich einen tiefen Schlaf.

Nach Zwischenhalten in Hampi und Kazipet, rollt unser Geländewagen über die von Schlaglöchern durchsetzte Piste. Eine dichte Staubwolke steigt in die sengende Hitze jenes Morgens. Noch vor wenigen Tagen gingen wir unserem Tagesgeschäft im Komfort des westlichen Lebens nach – nun sind wir auf dem Weg in die kleinen Dörfer des südindischen Warangal Distrikts, um weitere Kreditnehmer von Rang De kennenzulernen. Die Begegnungen sollten Einblicke in die ganz persönlichen Geschichten und Schicksale der Landbevölkerung dieser Region ermöglichen.

Zunächst wurde ein Empfang für uns vorbereitet, auf den wir bei Weitem nicht gefasst waren. Wir sitzen gut fünfzig Witwen gegenüber, die teilweise ihre Geschichten mit uns teilen, in denen es immer wieder um Überschuldung und den Suizid ihrer Ehemänner geht. Dann verlangt man von uns, dass wir ein paar Worte sagen. Aber was? Die Geschichten, die wir gehört haben, sind so tieftraurig und so weit von den Problemen unseres Alltags entfernt, dass ich nicht weiß, wo ich Worte finden soll, die aufrichtig uns nicht hohl klingen. Ich erzählte davon, wie wir die Geschichten mit nach Europa bringen wollen, um ein Bewusstsein für die Probleme in diesem Teil der Welt zu schaffen. Die meisten scheinen mit diesen Worten zufrieden. Ich bin erleichtert, dass ich mich wieder setzen kann.

Empfang durch eine Gruppe von Witwen, welche nach Überschuldung und Suizid ihrer Ehemänner zunächst perspektivlos zurückgeblieben waren. Durch Rang De und weiteren Partnerorganisationen leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe.
Unser Treffen mit Pushpa.

Im nächsten Dorf treffen wir Pushpa, eine Frau in ihren Dreißigern, die mit ihren Eltern in einer provisorischen Wellblechhütte wohnt. Ihr Mann hatte sich kurz nach der Hochzeit das Leben genommen, weil er nach einem Ernteausfall seine Schulden für Saatgut und Dünger nicht mehr bedienen konnte. Nach dem Suizid ihres Mannes gingen sowohl die Schulden, als auch der öffentliche Druck der mafiösen Geldgeber auf Pushpa über. Außerdem wurde sie als kinderlose Witwe aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. 

Nachdem ihre Eltern altersschwach und krank wurden, musste Pushpa auch für diese sorgen. Zwar konnten sie unter ihrem Wellblech Unterschlupf finden, doch um alle drei regelmäßig mit einer Mahlzeit versorgen zu können, musste Pushpa täglich in die nächstgelegene Stadt reisen, um dort als Tagelöhnerin auf einer Baustelle mit schwerer körperlicher Arbeit einige Rupien zu verdienen. Eine lokale NGO hatte ihr schließlich einen fairen Kredit über Rang De vermittelt, mit welchem sie sich einen Wasserbüffel kaufte. 

Der Büffel versorgt Pushpa mit drei Litern Milch pro Tag, wovon sie den Großteil an eine Genossenschaft verkauft (Erlös 1-2€). Dank dieses Nebeneinkommens konnte Pushpa die Baustellenarbeit (Tageslohn 3-4€) durch Arbeit als Tagelöhnerin auf den umliegenden Baumwollfeldern ersetzen (Tageslohn 2-3€). Die eingesparte tägliche Reisezeit erlaubt ihr, sich ein wenig mehr um ihre Eltern zu kümmern.

Trotz der geringfügigen Erleichterung durch das Nebeneinkommen kann Pushpa noch kein würdiges Leben führen. Neben der sozialen Ausgrenzung leidet sie noch immer unter existenziellen Sorgen. Kürzlich musste ihr Vater wegen eines gebrochenen Beins medizinisch versorgt werden. Um diese und weitere medizinische Behandlungen zu finanzieren, hatte Pushpa sich bei einem Großgrundbesitzer zu einem Wucherzins von knapp 40% pro Jahr verschuldet. Um die monatlichen Raten bedienen zu können, muss sie regelmäßig auf Nahrung verzichten.

Erschüttert und von Pushpas emotionalem Zustand mitgenommen – sie war während unseres Gesprächs mehrfach in Tränen ausgebrochen und musste von der Übersetzerin beruhigt werden – verabschieden wir uns. Unser Weg führt vorbei an Hütten, einige Kinder spielen auf dem staubigen Boden, in der Ferne sind Feldarbeiterinnen auf den Baumwollplantagen zu sehen, ein Hirte treibt Ziegen durch die Landschaft.

An diesem Tag treffen wir noch drei weitere Frauen, da ist Shameen, die ihren Kredit hauptsächlich dafür nutzt, um ihrer Tochter eine Bildung zu finanzieren. Ihre andere Tochter hat außerhalb der Kaste geheiratet und ist seitdem verschwunden. Oder Saritha, die mit ihrem Kredit eine Nähmaschine für ihre Schneiderei gekauft hat und nebenbei ein Kiosk betreibt, oder Swapna die mit ihrem Kredit eine Bäckerei eröffnet hat, welche jeden Morgen per Fahrrad Brötchen in die umliegenden Dörfer vertreibt. 

All diese Frauen teilen das Schicksal einer Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes mittellos zurückgelassen wurde und der ein Kleinkredit von Rang De neue Perspektiven eröffnete. Ein solcher Kredit kann aber nicht alle Probleme lösen, manchmal scheint die Arbeitsbelastung, die auf den Schultern dieser Frauen liegt, nicht tragbar; manchmal lässt der soziale Druck, die Brandmarkung als Witwe eines Selbstmörders, die Frage aufkommen, ob man überhaupt noch einen Grund findet weiterzumachen.

Wir sitzen am Flughafen von Bangalore und warten auf unseren Rückflug. Diesmal stellt keiner die Frage: Warum haben wir das alles gemacht? – Vielleicht weil wir eine Antwort gefunden haben. Nach unserem Trip hatte Lakshmi die richtigen Worte: „Man möchte halt einen direkten Effekt durch den Kredit sehen. Aber das ist nicht immer möglich. Wir gehen kleine Schritte!“ In jedem Fall haben wir gelernt, dass man helfen kann. Man muss nicht die ganz großen Probleme lösen – vielleicht ist man dann erst recht zum Scheitern verurteilt –, es reicht zu wissen, dass man Leuten helfen kann, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und zum Besseren zu wenden.

Saritha konnte mithilfe eines Kleinkredits von Rang De eine Schneiderei und ein Kiosk eröffnen.